Ökumene bewegt Menschen

Am 19. Januar 2017 versammelte sich um 19.30 Uhr eine bemerkenswerte Anzahl von katholischen, evangelischen und freikirchlichen Christen in der katholischen Pfarrei Regensdorf, um einen Vortrag von Prof. Dr. Manfred Hauke zum Thema „Ökumene-Wahrheit“ zu hören. Im Anschluss an das anderthalbstündige Referat blieb Zeit für Fragen und angeregte Diskussionen, die auch nach dem offiziellen Teil um 22 Uhr beim Apéro weitergingen: Das Thema Ökumene ist aktuell und bewegt engagierte Menschen.

Meine Eindrücke und Gedanken zu dieser ökumenischen Veranstaltung, die im Rahmen der Gebetswoche für die Einheit der Christen stattfand, fasse ich nachfolgend zusammen. Ich bin evangelisch-reformiert, meine Frau römisch-katholisch. Geheiratet haben wir ökumenisch. Mein Glaubensleben hat sich durch den Kontakt mit Menschen der katholischen Kirche erweitert, vertieft und bereichert.

Hauke spricht schnell und aufgrund des komplexen Themas und seiner akademischen Sprache nicht immer leicht verständlich. Deshalb versuche ich sein Referat erst gar nicht wiederzugeben. Ich beschränke mich auf Denkanstösse, die teils auf dem Vortrag, teils auf den anschliessenden Diskussionsvoten beruhen.

Prof. Dr. Manfred Hauke stammt aus Paderborn in Westfalen, Deutschland. Seit 25 Jahren ist der geweihte Priester Professor für Dogmatik an der Theologischen Fakultät in Lugano. Der Dogmatiker wirkt aber auch als deutschsprachiger Seelsorger in Lugano. Er passt seine Sprache situativ an: nach seinem anspruchsvollen Vortag setzt sich Hauke zum Publikum und beantwortet geduldig dessen Fragen oder stellt den reformatorischen Sicht- und Denkweisen die katholische Haltung unmissverständlich gegenüber. Für Hauke ist eine Vernebelung der unterschiedlichen Standpunkte im Sinne einer "Tintenfischökumene" keine Option.

 

In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen

In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen, sagt Jesus Christus. In den Anfängen des Christentums genügte ein Einfamilienhaus. Heute ist sogar ein Hochhaus zu klein, um alle christlichen Glaubensrichtungen – besonders der Reformierten - unterzubringen. Hauke begann deshalb seinen Vortrag mit der Frage: An wen verweisen wir eine andersgläubige Person, die zum Christentum übertreten will? An die römisch-katholische Kirche mit ihrer ununterbrochenen Tradition zur Urkirche? An die evangelische Landeskirche mit ihrer allein gegenüber Gott verantworteten Freiheit? An die Freikirchlichen mit ihrer persönlichen und unmittelbaren Beziehung zu Jesus Christus?

Jesus Christus war Jude. Das Christentum hat seine Wurzeln im Judentum. Altes und neues Testament müssen für alle Christen deshalb Leitlinie sein. Die Bibel ist der Spiegel der Wahrheit. Wahrhafter Glauben geht jedoch über den Wortlaut der Bibel hinaus. Das Geheimnisvolle jenseits der sicht- und greifbaren Wirklichkeit muss einbezogen werden. Und da fängt das Ringen um den „richtigen“ Glauben an. Die Reformierten sprechen z.B. vom Abendmahl, die Katholischen von Eucharistie. In Brot und Wein ist für die einen Christi real gegenwärtig, für die andern sind Brot und Wein nur Zeichen für den Leib Christi und sein Blut. In der katholischen Kirche bilden die Lebenden und die Toten ein Ganzes. Die Reformierten haben mit Heiligen, Hierarchien und Vorschriften radikal aufgeräumt. Für sie genügen der Glaube und die Schriften zur Rechtfertigung vor Gott und für seine Gnade. Die reformierten Kirchen gründen auf Kirchgemeinden und sind demokratisch verfasst. Die katholische Kirche ist hierarchisch und zentralistisch organisiert.

Die katholische Kirche ist römisch. Ihre Organisation ist römisch. Ihr Recht ist römisch. Sie ist dadurch nicht nur geprägt durch das Gottesbild in der heiligen Schrift, sondern auch durch die geschichtliche Entwicklung bis in die heutige Zeit. Allerdings: das Wort Gottes wurde Fleisch in der römischen Provinz Judäa – mit allen Konsequenzen für Jesu, seine Nachfolge und „seine“ Kirche.

Ökumene ist gemeinsame Wahrheitssuche

Was wissen Menschen über ihre Religionsgemeinschaft, der sie vielfach nur noch auf dem Papier angehören? Die Katholiken haben ihr apostolisches Glaubensbekenntnis, das in jedem Gottesdienst von der Gemeinde gesprochen wird. Die reformierte Landeskirche ist bekenntnisfrei. Die einzelne Kirchgemeinde ist nicht verpflichtet, in jedem Gottesdienst ein Bekenntnis zu sprechen. Sie ist aber auch frei, alte oder neuere Bekenntnisse aus ihrem Gesangbuch in die Liturgie aufzunehmen. Zudem steht in ihrer Kirchenordnung einleitend ein Abschnitt zum Ursprung und Bekenntnis ihres Glaubens. Doch wer kennt schon diese acht Artikel? Die Glaubenskriege vom 16. Jahrhundert bis in die Neuzeit verdeutlichen, dass die Abspaltung einfacher als der Konsens ist. Eine Wiederherstellung der Einheit war bis ins letzte Jahrhundert sogar undenkbar.

Ökumene heisst miteinander Unterwegsein auf der Suche nach der Wahrheit. Diese Wahrheitssuche ist mit einem Labyrinth vergleichbar, wo es nur einen einzigen und verschlungenen Weg ins Zentrum, zu Gott und zur Wahrheit gibt. Labyrinthe sind keine Irrgärten, sondern Spiegelbild des Lebens.

Erste Bestrebungen, Christen verschiedenen Glaubens wieder zu vereinigen, reichen an den Anfang des letzten Jahrhunderts zurück, als sich Anglikaner und Katholiken anzunähern versuchten. Das Modell „Rückkehrökumene“ musste scheitern, weil damit implizit postuliert wurde, dass die Mutterkirche in der Wahrheit geblieben, und die davon abtrünnige Gemeinschaft einen Irrweg beschreitet. Es würde sich heute kaum jemand finden lassen, der für eine Wiedervereinigung der Bundesstaten der USA mit ihren Mutterländern in Europa auf politischer Ebene allein aufgrund des Arguments von gemeinsamen Wurzeln kämpfen würde. Auch christliche Gemeinschaften haben sich seit ihrer Abspaltung auf je eigenen Wegen weiterentwickelt.

Zahlreiche andere Modelle zur Wiederherstellung der Einheit wurden seither entwickelt, diskutiert und verworfen. Das Bestreben der christlichen Kirchen nach Einheit ist gegenwärtig. Doch das Herunterbrechen und Umsetzen des Ziels gleicht der Quadratur des Kreises.

Das Zweite Vatikanische Konzil anfangs der 1960-er- Jahre hielt daran fest, dass die „Kirche Christi“ allein in der katholischen Kirche verwirklicht und somit die einzig wahre Kirche Christi sei. Daraus folgt, dass es ausserhalb der katholischen Kirche wohl Elemente der Heiligung und der Wahrheit gibt, und weiter, dass christliche Gemeinschaften, die den Papst nicht als Nachfolger Petri anerkennen, für die apostolische Nachfolge nicht berufen sind.

Papst Johannes Paul II. hatte einige Schritte in Richtung Ökumene eingeleitet. In seiner Enzyklika "Ut unum sint" ("Damit sie eins seien") aus dem Jahr 1995 drückte er seinen Wunsch aus, dass sich alle christlichen Kirchen unter einem für alle annehmbaren Pontifikat vereinigen. Ein solches Pontifikat ist aufgrund der grossen Verschiedenheiten der Religionsgemeinschaften in Organisation, Glaubensverständnis und Tradition nicht realisierbar.

Der Regensburger Bischof Gerhard Ludwig Müller warnt davor, Ökumene mit „der Brechstange“ erzwingen zu wollen. Katholiken können nicht evangelisch werden, indem man sich nur auf die Schnittmengen einigt: Ein graues Säugetier kann eine Maus, ein Esel oder ein Elefant sein. Die Evangelischen haben zwei Sakramente (Taufe, Abendmahl), die Katholischen sieben (Taufe, Firmung, Eucharistie, Priesterweihe, Ehe, Beichte, Krankensalbung): also einigen wir uns auf zwei. So funktioniert Ökumene nicht.

Im Modell „Rechtfertigung“ bekennen die katholische und die Lutherische Kirche gemeinsam, dass Gott aus Gnade dem Menschen die Sünde vergibt und ihn von der Macht der Sünde befreit. Weiter bekennen sie gemeinsam, dass Menschen allein aus Gnade, nicht aufgrund ihres Verdienstes von Gott angenommen werden. Ein Mensch, der glaubt und in der Nachfolge Christi zu leben versucht, dessen Leben wird auch von der Gottes- und Nächstenliebe und damit von guten Werken gekennzeichnet sein.

Das Modell „versöhnte Verschiedenheit“ basiert auf einem differenzierten Konsens. „Versöhnen“ geht jedoch über das nur Tolerieren von anderen Bekenntnissen hinaus. Es verlangt aber nicht, in allen Punkten Einheit erzielen zu müssen. Vielmehr sollen die verbleibenden Differenzen herauskristallisiert, bezeichnet und der Umgang mit ihnen gemeinsam definiert werden.

Zusammenfassung und Schluss

Die Einheit der Christen ist weder hierarchisch von oben herab (Top-down) noch demokratisch von unten (bottom-up) zu erreichen. Vielmehr braucht es neue Wege, die mit Bedacht, Weisheit und im vollen Vertrauen auf den Heiligen Geist von allen christlichen Gemeinschaften gesucht und begangen werden. Niklaus von Flüe, der in der Schweiz, für Katholische und Reformierte gleichermassen anerkannt ist, hat dieses Vorgehen durch ein Rad mit Holzspeichen veranschaulicht. Wenn unser Blick zur Mitte unseres christlichen Glaubens, zur Nabe hin, zu Gott Vater und seinem Sohn, gerichtet bleibt, werden die Zentrifugalkräfte der auseinanderdriftenden, christlichen Gemeinschaften durch die Heilige Geistkraft mehr als aufgehoben: Sie können sich einander in versöhnter Verschiedenheit radial auf den Speichen wieder nähern, ohne ihr je eigenes Gut aufgeben zu müssen.

Kurt Sprecher